Schichtwechsel
Wolf Lotter, Brand Eins – Schwerpunkt Maschinen (07/2015)

1. Der Geist der Maschine
Es war ein Wunder.
1770 präsentierte Wolfgang von Kempelen in Wien einen unglaublichen Automaten: den Schachtürken. Dessen Erfinder war kein einfacher Jahrmarktschausteller, sondern ein kaiserlicher Hofbeamter aus bester Familie.
Noch lange nach dem Tod seines Konstrukteurs im Jahr 1804 sorgte der Schachtürke für Furore – in Paris, Potsdam, New York und London. Der Apparat bestand aus einer großen Figur in osmanischer Tracht, die hinter einer großen Kiste befestigt war, auf der sich wiederum ein Schachbrett befand. Die Figur konnte mit dem Kopf nicken oder ihn verneinend schütteln, und ihr rechter Arm führte einen Stab, der die Schachfiguren auf dem Brett bewegte. Aus dem Inneren der Maschine hörte man laute und regelmäßige mechanische Geräusche wie von tickenden Uhren, Zahnrädern und Hebeln – klick, klack.
Das Publikum sah und staunte.
Der „Türke“ trat gegen die besten Spieler seiner Zeit an und gewann fast immer. Die Promis rissen sich um eine Partie mit ihm. Friedrich der Große soll 1785 eine Partie gegen die Maschine, die dafür eigens nach Sanssouci gebracht worden war, verloren haben. Ein Vierteljahrhundert später saß der Schachtürke dem Kaiser der Franzosen, Napoleon Bonaparte, gegenüber. Der Feldherr befand sich auf dem Zenit seines Erfolgs. Doch lange vor Moskau, Leipzig und Waterloo beendete der sagenhafte Apparat den Siegeszug des Korsen. Schachmatt.
Fast 70 Jahre lang verdienten die wechselnden Besitzer des Schachtürken ein Vermögen, bis Ende der 1830er-Jahre der Schwindel aufflog. Im Inneren der vermeintlich selbstständigen und klugen Maschine hatte sich von jeher ein menschlicher Schachspieler versteckt – klick, klack. Das Geklappere sollte nur davon ablenken, wer wirklich die Züge auf dem Brett ausführte.
Die äußere Form dieses Betrugs, der Schachtürke, ist seither zum geflügelten Wort für Täuschungen und Irreführungen geworden. Wenn etwas „getürkt“ ist, dann versucht jemand, uns ein X für ein U vorzumachen. Das erreicht man, wie beim Schachtürken, durch eine ausgeklügelte Konstruktion, die den wahren Inhalt geschickt verbirgt. Aber das allein reicht nicht, wie jeder Magier weiß. Die wichtigste Voraussetzung fürs „Türken“ findet man stets bei jenen, die sich türken lassen. Einer verfälscht die Wirklichkeit, weil es in seinem Interesse liegt. Aber der Betrogene wird getäuscht, weil er nur sieht und hört, was er sehen und hören will. Das ist der Geist der Maschine. Sie tut, was wir wollen, sie ist, was wir sind.

2. Die Universalmaschine
Es ist kein Zufall, dass sich die Erfolgsgeschichte des Schachtürken mit jenem Zeitabschnitt deckt, den die Historiker heute die erste industrielle Revolution nennen, eine Ära, in der man Maschinen und Automaten alles zutraute. Die Leute waren begeistert vom Geist der Maschine. Sie versprach nicht bloß Unterhaltung wie beim Schachtürken. Viel wichtiger war die Aussicht, dass sich die Menschen durch sie von der Plackerei befreien würden, die sie seit jeher zur Sicherung ihrer Existenz auf sich nehmen mussten. Alle modernen Utopien haben ein Ziel: eine Welt, in der Menschen tun, was sie möchten, während die Maschine arbeitet. In den Dystopien, den heute so populären negativen Gegenstücken zur guten Zukunft, ist das genau umgekehrt. Da bedienen wir den Automaten, der uns traktiert, wenn wir nicht parieren – oder uns gleich ganz vernichtet. Hinter dem von der deutschen Politik und den Verbänden gepushten Schlagwort „Industrie 4.0“ steckt immer beides: Himmel und Hölle der Automatisierung.
Auf der grundlegenden Ebene ist Industrie 4.0 der Eintritt der Produktion ins entwickelte Informationszeitalter – digital, vernetzt, flexibel. Diese Schlagworte meinen eine auf Vollautomatik ausgerichtete, mit Lieferanten, Partnern und Märkten vernetzte und hochflexible Produktionsstätte, die der personalisierten, individuellen Produktion verpflichtet ist: der viel zitierten „Losgröße 1“.
Produkte kommen nicht mehr von der Stange, sondern werden nach den Erfordernissen und Bedürfnissen einzelner Kunden gefertigt. Das schließt Großserien nicht aus, wobei sich die Produkte in ihrer Funktion und ihrem Aussehen aber deutlich unterscheiden können. Zudem warten sich die Systeme zusehends selbst.
Das ist mehr als ein Fließband mit Internetanschluss. Es ist der Abschied von der wichtigsten industriellen Doktrin überhaupt, der Massenproduktion. Die wird es zwar auch weiterhin geben, aber neue Märkte und Wachstum generiert man nur noch durch flexible, individuelle Produkte. Das wird nahezu alles, was uns vertraut vorkommt, nachhaltig verändern.
Die Maschine aus dem Industriekapitalismus, der Automat der Massenproduktion, kann eine Sache, und die gut, gründlich und schnell. Die neue Produktionswirtschaft aber ist die Universalmaschine, der Computer, ein per Definition frei programmierbares, der jeweiligen Problemstellung anpassbares System.
Diesen Trumpf spielt die Universalmaschine aber erst in der Vernetzung voll aus, also in der Kommunikation und im Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten – bis hin zum Kunden, den man früher „Verbraucher“ nannte. Früher kauften die Leute, was man massenhaft herstellte. Nun bestellen sie, was sie möchten – wie in einem Restaurant, in dem à la carte gegessen wird.
Die Norm verliert an Bedeutung. Wer eine schlaue Fabrik haben will, die sich rasch wechselnden Bedürfnissen anpassen kann, muss anders denken, als er es in der Ära der Massenproduktion gelernt hat. Das gilt für Mitarbeiter, Organisation, Entwicklung und die Art und Weise, welche Rolle die Kunden und Partner bei Innovationen spielen.
Und es braucht auch eine neue technische Offenheit: Die Produktion ist ein Teil des Internets der Dinge, in dem Daten gesammelt und ausgetauscht werden. Was man da beherrschen muss, ist die Kunst des Zusammenbringens, der gelungenen Kommunikation.
Das Wichtigste ist aber etwas anderes, weit Grundlegenderes: die Fähigkeit und Bereitschaft, nicht nur die Welt der Produktion mit neuen Augen zu sehen. Oliver Kelkar ist der Chef der Abteilung Innovationsmanagement der Porsche Tochter MHP in Ludwigsburg und weiß, wie sehr die neue Produktion unsere bisherigen Sichtweisen herausfordert. Das bekannteste deutsche Industrieprodukt, das Auto, wird nach wie vor als Hardware begriffen und nicht als das, was seinen Wert längst schon bestimmt: die ihm innewohnenden Funktionen, Fahr- und Assistenzsysteme, der Komfort und die Sicherheit, die nicht von Materialien abhängen, sondern von Programmen. „Das Produkt wird immer mehr zur Software“, sagt Kelkar, „das sagt sich leicht, ist aber immer noch sehr schwer zu denken.“ Das kann man so sagen. Begriffen wird nur, was man greifen kann.
So sind bereits heute nahezu alle Assistenzsysteme in den Bordcomputern gespeichert. Doch wer sie nutzen will, muss die Funktion kostenpflichtig freischalten lassen. Viele Kunden ärgert das. Sie sind, wenn es um Wissen und Zugriff darauf geht, in einer Welt aufgewachsen, in der geistiges Eigentum gern verschenkt wird – was den Stellenwert der dahintersteckenden Wissensarbeit trefflicher beschreibt als jede akademische Abhandlung. Dass nicht die Ma- schine den eigentlichen Wert repräsentiert, sondern das, was sie zu leisten imstande ist, muss erst mühsam gelernt werden. „Wenn wir jetzt anfangen, ist das ein Generationsprojekt“, sagt Kelkar trocken. Sein Job erinnert zurzeit sehr an die frühen Neunzigerjahre: „Damals galten wir als Spinner, weil wir sagten: Das Internet wird euer Geschäft verändern. Jetzt haben wir das wieder.“ Kelkar weiß: Das wird noch ein hartes Stück Arbeit.

3. Die Schlafmützen
Die Konsequenzen, die sich aus der Digitalisierung der Fabrik ergeben, gehen viel tiefer als die bisherigen Veränderungen durch das bisschen Web, das seit gut 20 Jahren die Ökonomie umgestaltet.
Die Transformation von der Einheits- zur Universalmaschine rückt das Wissen in den Mittelpunkt. Mit routiniertem Fleiß, dem Wortsinn von Industrie, hat das kaum noch etwas zu tun. Schon der Begriff Industrie 4.0 führt deshalb auf den Holzweg. Wären wir wirklich auf das, was es ist, vorbereitet, müsste man das Ding beim Namen nennen: Wissen 1.0.
Ist das Wortklauberei? Nein. Es ist ein Grund dafür, weshalb das, was Industrie 4.0 kann, nicht wirklich in den Köpfen der Verantwortlichen angekommen ist. Der T-Systems-Manager Reinhard Clemens hatte im Januar dieses Jahres den Mut, das auch auszusprechen: „Im Wesentlichen haben wir nichts hinbekommen“, sagte er auf einer Tagung des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) in Düsseldorf. „Die erste Halbzeit der Digitalisierung haben wir verloren.“ Beim Thema Industrie 4.0 würden vor allen Dingen, so Clemens, die Gremien und Arbeitskreise gut laufen, die Bürokratie also.
Woran es wirklich hapert, ist etwas anderes: Die deutsche Arbeits- und Wirtschaftskultur fremdelt massiv mit der Wissensgesellschaft und ihren Möglichkeiten. Das hat sie bereits beim Computer und dem Internet getan. Und nun, wo es um die Veränderung ihrer Kernkompetenz, der Produktion, geht, zeigt sie, dass auch ihr Maschinenbild von gestern ist.
Das hat kulturelle Gründe. Denn der Begriff Industrie steht in Deutschland nicht einfach wie anderswo für eine Produktionsform, sondern ist eine Weltanschauung. Sie ist eine heimliche Staatsreligion, ein Glaubensbekenntnis, auf das immer wieder zurückgegriffen wird, weil sich in ihm die Geschichte der Bundesrepublik spiegelt.
Und natürlich ist der Name Industrie 4.0, den Bundesregierung, BDI, der Technikförderverein Acatech, der Maschinenbauerverband VDMA und andere Branchenvertreter ausgeknobelt haben, alles andere als zufällig gewählt. Industrie 4.0, das soll klick, klack machen in den Köpfen von Bürgern, Unternehmern und Managern. Industrie 4.0 suggeriert eine Art logischen nächsten Schritt in der Industriegesellschaft, ihrem Sozialstaat und dem gängigen Erwerbsmodell: Sicherheit, Kontinuität, keine Brüche. Ja gut, es wird ein bisschen digitalisiert, aber sonst bleibt alles beim Alten – eine Fabrik mit Fließband und Internetanschluss, festen Arbeitszeiten und einer dazugehörigen festen Lebensplanung bis zur Rente. Der Name ist Programm: Industrie 4.0, ein Schritt nach vorn, zwei zurück. Ein getürkter Fortschritt.
Seit Beginn der Digitalisierung in den Siebzigerjahren bestimmen die USA, Japan und China die Themen: Personal Computer, Internet, Netzwerke, personalisierte wissensbasierte Produktion – das machen die anderen, wir gucken lieber erst mal. Das Thema ist hierzulande wie folgerichtig fest in den Händen großer, global agierender Unternehmen, die sich längst nicht mehr an der deutschen Gesellschafts- und Sozialordnung orientieren.
Dem Rest wird der Fortschritt von oben verordnet.
Dass das nicht auffällt, ist Teil des Problems. Die vermeintlich vierte industrielle Revolution ist die erste, die auf Geheiß von Politikern und Verbänden stattfinden soll. Die industriellen Revolutionen Nummer eins, zwei und drei erhielten ihre Namen noch auf ganz altmodische Art und Weise, im Nachhinein, also nachdem ihr Wesen für alle sichtbar war. Man gab einer Tatsache einen Namen, keiner politischen Wunschvorstellung.
Das Original, die erste industrielle Revolution, beginnt zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien. Es ist die Zeit, in der der schottische Moralphilosoph Adam Smith in der Arbeitsteiligkeit und Automatisierung die Grundlage des „Wohlstands der Nationen“ erkennen wird. Die Mechanisierung ist weit fortgeschritten, ebenso wie der Ausbau der internationalen Handelswege. England wird zur „Werkstatt der Welt“, zum Ort, an dem für jedes bekannte Problem eine Lösung gesucht und gefunden wird.
Doch anfänglich leiden die Industrie und ihr Kapitalismus an mangelnder Puste. Es geht darum, neue Kraft- und Energiequellen zu erschließen, die Maschinen effizient antreiben können.
Der französische Historiker Fernand Braudel hat für diese Zeit vor der Französischen Revolution eine Energiebilanz für Europa errechnet: Rund 38 Millionen Pferde und Rinder liefern eine Gesamtleistung von 10 Millionen PS. Holz zum Befeuern von Öfen weitere rund 4 bis 5 Millionen PS. Insgesamt 50 Millionen Menschen, so viele Einwohner zählt Europa im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, bringen bei äußerster Mühe weitere 900.000 PS ein. Die Segelkraftleistung aller Schiffe zusammen rund 233.000 PS. Dazu kommen weitere 500.000 bis 600.000 Wassermühlen, deren Leistung bei 5 bis 7 PS liegt. Pro Person stehen somit höchstens 0,4 PS zur Verfügung, und diese Kraft ist noch dazu von unzähligen Faktoren, dem Wind, dem Wetter, der Tageszeit oder – bei Tieren und Menschen – ihrer aktuellen Konstitution abhängig.
Eine Dampfmaschine hingegen ist eine von den Launen der Natur unabhängige Kraftquelle. Sie kann rund um die Uhr arbeiten. Das führt schließlich zum Schichtbetrieb, der bis heute unsere Arbeitszeiten und unsere Vorstellungen von Dienst und Freizeit dominiert. Seit es die Dampfmaschine gibt, ist der Arbeit keine Grenze mehr gesetzt.
Erst recht, als diese Maschine als Eisenbahn mobil wird, zum Netzwerk, das Rohstoffe und Fertigwaren über große Distanzen verteilen kann.
Die erste Phase der Industrialisierung dauert bis etwa 1840. In Deutschland regiert damals der Biedermeier. Die Deutschen leben auf einem Flickenteppich aus Fürstentümern und Stadtstaaten, und sie gelten noch nicht als die fleißigen Arbeitsbienen der Welt, im Gegenteil. Die populärste Figur dieser Zeit ist der Deutsche Michel, ein vergnatzter Spießer, dessen Erkennungssymbol die Schlafmütze ist – ein Charakter, der, wie es der zeitgenössische Sprachforscher Joseph Eiselein sagt, stellvertretend für das „ganze schwerleibige deutsche Volk“ steht. Es gibt aber Ausnahmen.